Schnapsfrüchte statt Bürgergeld
TA Kolumne vom 27.10.2022 von Susanne Krauß
Obwohl die letzten Tage dem „Goldenen Oktober“ alle Ehre gemacht haben – unwiderruflich heißt es Sommer ade. Mit ihm entschwanden Ferien, Urlaub und himmelblaue Hängemattenseligkeit, der man frönen durfte. Jetzt rüstet sich das Jahr sozusagen zum Endspurt – mit aller Macht und unter Einsatz aller noch verfügbaren Kraftreserven. Als ob es sagen will, „Huch, schon so spät? Jetzt aber mal bisschen flott, meine Dame!“ Wer des Abends schlagkaputt ins Bett kippt, staunt beim kurzen Fazit vorm Einschlafen, wieviel vor allem dienstliche, aber auch häusliche und familiäre Aktivität in einen 24-Stunden-Tag hinein zu pfropfen sind, ohne dass der Sack platzt. Dabei hätte man eigentlich auch noch die Steuer und die Wäsche schaffen wollen… Zahnarzt… Oma-Besuch. Umso schwerer fällt mir der anerkennende Schulterklopfer am Abend, dass ich ganz schön fleißig war. Pustekuchen! Eher beklage ich fehlende Organisationskompetenz und überlege, warum ich den Anforderungen des ganz „normalen“ Wahnsinns manchmal nicht gerecht werden kann. Andere schaffen das doch auch. Abermals haha! Laut Statistik leiden 30% der Erwachsenen in Deutschland unter psychischen Erkrankungen und 5,6 % an Burnout, Tendenz steigend, Dunkelziffer unbekannt. Wer einmal ins Hamsterrad gesprungen ist, mag zwar stöhnen, entspricht aber der gesellschaftlichen Norm, und wer rausfällt, versaut sich diesen Status… meint der Genormte und spielt weiter Hamster. Klar könnte man sich auch im Herbst kleine Pausen gönnen. Also Memo an mich: Sonntag von 15:00 bis 16:00 Uhr: Zeit fürs eigene Wohlbefinden, Priorität: B, könnte ja was dazwischen kommen. In dem Moment frage ich mich, wieso das alles?
Und dann fällt mein Blick auf eine fette Schlagzeile: „Die Ampel hat endlich das Bürgergeld ausgebrütet, um es uns 2023 zu servieren.“ Wurde aber auch Zeit, denn damit ist allgegenwärtige Hektik und krankmachender Stress abzubauen. Kürzer und ruhiger arbeiten, und zwar, um zu leben und nicht umgekehrt. Man hat Raum für nützliche Tätigkeiten in Ehrenämtern, Augen und Ohren für die Kinder und deren Schulaufgaben, für kranke Nachbarn – und ja, verdammt, auch um mit sich selbst im Reinen zu sein.
Die persönliche Würde solle beim Bürgergeld gewahrt bleiben, es gestatte gesellschaftliche Teilhabe, werde unkompliziert gewährt, Überprüfung entbürokratisiert, sogar Vermögen anerkannt. „Na, geht doch!“, frohlocke ich. Aber wie’s mit himmlischem Frohlocken so ist: zu früh gefreut, weil falsch verstanden. Auch wenn ein „Bürgergeld“ suggeriert, dass es an alle Bürger ausgezahlt wird, wie im Pilotprojekt bereits getestet, ist auf diese Weise bloß ein armes, altes Kind, das Hartz IV hieß, umgetauft worden. Damit wird der „Hartzer“ zwar seinen Unglückstitel los und gilt also wieder als „Bürger“ wie du und ich… Doch wenn auf’s amtlich errechnete Existenzminimum ein Fuffi draufgelegt wird, den die Inflation sofort auffrisst, dürften Betroffene wohl kaum den Doppelwumms wahrnehmen. Ihre Lebenslage ließe sich mit statistischen Zahlen deprimierend illustrieren, ebenso der soziale Zündstoff und diverse andere Krisen unserer illusionären Wohlstandswachstumswelt – heute, am Welttag der Statistik. Aber der Denk-mal-Tag-Kalender hat den 20. Oktober auch zum „Tag der in Schnaps eingelegten Früchte“ erhoben und also gleich den Trost parat. Prost, Bürger!
Carolinde Müller-Wolf aus Eisenach, Stefanie und Susanne Krauß sowie Birk Töpfer und Sindy Herrmann schreiben eine wöchentliche Zeitungskolumne, angelehnt an ihren Blog „Die Zauberer von Ost“.