Prag vom Fluss betrachtet
Wir freuen uns über den nächsten Gastbeitrag bei uns. Unsere heutige Gastautorin bietet zauberhafte Zeilen, herzerwärmende Poesie auf ihrem Fotoblog www.herzhuepfen.com. Heute mal bei uns:
Prag – vom Fluss betrachtet
Fliederduftendes, wildtaubengurrendes, wassergrünes Prag. Ich bin zeitig aufgewacht auf meinen sacht schaukelnden Hotelboot, das in einem stillen Seitenarm der Moldau inmitten von Fliederhecken und grünenden Bäumen liegt. Die Stadt scheint fern.
Schwäne gleiten vorm Fenster vorbei, schnatternde Enten und ab und an ein frühes Ruderboot. Nur aus der Ferne erinnern unsanft Polizeisirenen daran, dass ich inmitten einer Millionenstadt liege…
Ich habe rasch gefrühstückt (kaum dass die Sonne über Prags siebentem Hügel aufging) und mich auf den Weg in die Altstadt gemacht. Immer am Fluss entlang. Kilometer um Kilometer. Wie anders eine Stadt doch ist – von unten vom Fluss betrachtet. Aus der Entenperspektive. Alles treibt sachte nach Norden. Boote liegen schaukelnd im menschenleeren Yachthafen, eine Nutriafamilie kommt ans Ufer – angelockt von den Brotresten, die drei Obdachlose ins Wasser werfen; das Sonnenlicht webt geheimnisvolle Lichternetze auf die Wasseroberfläche, ihre Spiegelung lässt die Brückenpfeiler tänzeln; Angler dümpeln, ins Frühstücksbrot beißend, auf der Flussmitte. Brücke um Brücke spannt sich über mir auf.
Vielleicht, denke ich später, ist der Fluss, ist dieser breite Strom im Herzen der Stadt, Prags Tempogeber. Prag hat einen anderen Rhythmus. Es hastet nicht. Die Prager hasten nicht. Vielleicht eilen die Touristen in breiten Strömen, getrieben, von Schauplatz zu Schauplatz. Die Einheimischen aber haben ihre Vltava im Blut.
Vom Vyšehrad, dem Berg der Könige, der wie eine hohe Klippe über dem Fluss aufragt, duftet es intensiv nach Kerbel zu mir herab. Ich brauche eine Weile, bis ich den Geruch einordnen kann. Der Aufstieg ist ein Fest der Sinne: atemberaubende Ausblicke über die Moldau bis zur Prager Burg und darüber hinaus; Flieder, Flieder und gerade gemähte Hänge – denen der intensive Duft nach dem frischgeschnittenem, hier wild wachsenden Küchenkraut entspringt.
Der Burgberg erwartet mich beinahe menschenleer. Die Kirche ist noch verschlossen, auf dem Kirchhof harkt eine einsame Nonne die Wege. Aber was für ein Kirchhof!
Unter hohen Arkaden liegen die Großen des Landes in kunstvoll verzierten Séparées. Dvořáks Grab finde ich zufällig, ich suche nicht nach Prominenten. Ich lasse mich von der Neugier treiben. Kein Grabmal gleicht dem anderen: eine Viefalt an Formen, berührenden Skulpturen und bewegenden Inschriften. Darunter auch Kurioses, wie das Grabmal von Fräulein Aloisia Niemitz, Hausbesitzerin, gestorben am 23. Dezember 1895 in Prag, im 75. Jahre – möge sie in Frieden ruhen.
Später mit geschlossenen Augen am Moldauufer unter der Karlsbrücke sitzen. Bootsmotoren stampfen vorbei, irgendwo spielt jemand Violine, Stimmengewirr von allen Terrassen der Kleinseite. Neben mir ist ein tschechisches Paar ins Gespräch vertieft. Ihre sanfte Sprache schmeichelt meinen Ohren, wie beschwichtigende Liebkosungen einer Mutter klingen die vielen Sch-Laute. Eine Sprache wie Umarmungen, sanft wie der Fluss. Nur dann und wann unterbrochen von den harten deutschen Rufen lärmender Touristen.
Sitzen. Die Beine baumelnd über dem Fluss. Und alles vorbei ziehen lassen. Die Ausflugsboote, die Touristenströme auf der Brücke, die Kellner im Restaurant nebenan mit vollen und dann wieder leeren Tellern in den Händen. In die braunen Wasser der Moldau starren. Unrat, der vorbei treibt, Enten und Schwäne bettelnd um Brot, das ich nicht einstecken habe. Mittagshitze. Die Sonne brennt auf meinen Nacken, bleicht die Häuser am andern Ufer aus. Ich müsste aufstehen. Irgendetwas tun. Aber ich bleibe sitzen.
Die untergehende Sonne umgibt die Prager Burg mit einem Heiligenschein. Die Dächer und Fassaden auf der anderen Uferseite färben sich golden ein – Prag leuchtet.
Ich weiß nicht, welches Instrument der junge Tscheche spielt, in diesen Minuten kurz nach Sonnenuntergang auf der Brücke. Touristenströme lichten sich, Schritte verlangsamen. Wer ein Herz hat zu hören, hält inne. Die weichen Schlägel weben auf der stählernen Trommel ein Netz aus Tönen; imitieren den Flügelschlag der Enten, die im Abendlicht von der Moldau auffliegen; klingen wie die Mücken im Tanz um das Standbild am Brückenrand – belauert von einer Spinne; klingen wie das Flimmern des orangefarbenen Lichts der Laternen in den sich kräuselnden Wellen. Es scheint, als würde der Fluss plötzlich besser fließen. Als hätte ihn einer verstanden.
Ich sitze auf der schmalen Brüstung. Der Blick in die Tiefe – schwindelerregend. Das ist wie ein Sog. Der Wind bläst zum Absturz, die Musik zieht mich hinunter zum Wasser.
Lass los, sagt sie, lass dich fallen. Vertraue und du kannst fliegen. Sicher geborgen in einem Netz aus Tönen.
Auch wenn der Name Kafka einem aus allen Ecken und auf allen Souvenieren entgegenschreit, Kafkas Prag oder viel mehr die Vorstellung davon, ist nicht mehr zu finden. Als ich vor 15 Jahren das erste Mal nach Prag reiste, gab es sie noch diese Straßen und Höfe und Gassen mit ihrem traurigen Charme. Prächtige Häuser – leise verfallend, herrliche Fassen – zeitgeschwärzt und bröckelnd im trüben Licht alter Laternen. Morbider Charme – Kafkas Prag. Heute strahlt die Stadt schön wie nie zuvor. Sie ist wahrlich golden, nicht nur zum Sonnenuntergang. Die Fassaden glänzen aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt, blitzsaubere, gut beleuchtete Gassen und Höfe machen die Zeiten früherer Prager Melancholie beinahe vergessen. Vielleicht hätte ich im November kommen sollen, wenn die Tage grau sind und die Nebel von der Moldau herauf durch die Straßen kriechen. Im hellen Sonnenschein wird jeder unheilvolle Schatten gnadenlos weggeleuchtet und das frische Grün lässt düstere Gedanken unmittelbar verkümmern.
Mein Boot ist ein Relikt. Die Kajüten haben Schiebefenster, wie man sie aus alten Eisenbahnwagen kennt. Kondenswasser sammelt sich zwischen den Scheiben, kleine rostige Rinnsale bilden sich an den Rändern. Braun vertäfelt sind die Wände, in vergilbtem Pfeffer und Salz gemustert der Teppichboden – es riecht, als hätte jahrelang niemand gelüftet. Holzbetten rechts und links des Fensters ohne Federung und mit durchgelegenen Matzratzen. Ich habe zwei übereinander gestapelt – so ist es bequem. Zwischen den Betten ist ein kleiner, halbrunder Holztisch befestigt, auf den jemand, der es gut meinte, ein Väschen mit Plastikblumen stellte.
Auf diesem Boot ruht alle Zeit. Sommer und Winter kommen und gehen, das Boot liegt im Fluss und bewahrt Vergangenheit. Die Tür zum Deck ist am Morgen immer verschlossen, damit bloß keiner auf den Gedanken kommt, seinen Morgenkaffee mit hinaus nehmen zu wollen, aus dem Speiseraum mit den Papiertischdecken, auf denen die hinterbliebenen Ränder fremder Kaffeetassen vom gestrigen Frühstück erzählen. Und doch: ich liebe dieses Boot. Ich liebe es der Stille wegen, ich liebe es, weil ich mich in den Fluss verliebt habe und ich liebe es aus ganz nostalgischen Gründen: weil es ein Stück von meinem alten Prag verkörpert, das ich in all dem Gold und Glanz nicht mehr finden konnte.
Reiseinfos: Unbedingt mit der Bahn anreisen und Zeit einplanen (der Eurocity ist fast immer verspätet) – die Fahrt ab Dresden entlang der Elbe durch die Sächsische Schweiz und später der Moldau in Sichtweite ist großartig. Am Besten sitzt man im Speisewagen. Das tschechische Angebot ist weit schmackhafter und sehr viel preisgünstiger als das der Deutschen Bahn. Zielbahnhof Praha – Holesovice. Von dort fährt die Tram Nr. 17 direkt bis zum Bootel Radcek (Haltestelle Kublov und dann noch etwa 300 m in Fahrtrichtung laufen). Ohropax (falls laute Nachbarn im Nebenzimmer sind) und Luftmatratze nicht vergessen. Vom Bootel aus läuft man etwa eine dreiviertel Stunde in die Altstadt, mit der Tram sind es 10 Minuten.